Stephen Greenblatt – Die Wende. Wie die Renaissance begann (orig. „The Swerve“)

Die Renaissance war ein spannendes Zeitalter. Neben dem Beginn der Naturwissenschaften, steht sie für einen kulturellen Wandel, für eine beginnende Säkularisierung und für die Wiederentdeckung von Ideen und Vorstellungen der Antike.

Ende des 14. Jahrhunderts begannen wohlhabende Florentiner antike Texte zu sammeln und zu kopieren. Dieser Vorgang war äußerst mühsam, da der Buchdruck noch nicht erfunden war, und der gesamte Text handschriftlich kopiert werden musste. Stephen Greenblatt beschreibt in seinem Buch das Leben des Poggio Bracciolini. Er lebte im Florenz der frühen Humanisten und teilte mit ihnen die Begeisterung für alte Texte. Als große Besonderheit galt seine wunderschöne Handschrift, die er nutze um antike Texte zu kopieren. Diese Fähigkeit brachte ihm sogar den Posten des apostolischen Sekretärs bei dem damaligen (Gegen-)Papst Johannes XXIII ein. Nach dessen Sturz hielt Poggio seine Leidenschaft für alte Texte aufrecht, und seine besondere Position im Vatikan erlaubte es ihm, die Bibliotheken von Klöstern zu besuchen, zu denen sonst nur Geistliche Zutritt hatten.

Das Schlüsselerlebnis Poggios war die Entdeckung eines alten Gedichts von Lukrez, namens „De rerum natura“ in der Bibliothek eines deutschen Klosters im Jahre 1417. Nachdem ihm klar wurde, welchen Fund er gemacht hatte, kopierte er den Text. Es war vermutlich das einzige verbliebene Exemplar dieses Gedichts seit der Antike. In diesem Werk beschreibt Lukrez seine Sicht auf die Welt. Diese ist so fortschrittlich und gleichermaßen gotteslästerlich, dass die Verbreitung dieses Texts laut Greenblatt womöglich die Renaissance einleitete. Beim Lesen von Lukrez‘ Thesen über die Beschaffenheit der Welt kann man kaum glauben, dass dieser Text vor über 2000 Jahren geschrieben wurde.

Lukrez geht davon aus, dass alles aus kleinen Teilchen bestehe, die ewig seien und unendlich in ihrer Zahl. Das Universum habe keinen Schöpfer, und es wurde auch nicht für den Menschen geschaffen. Die Natur experimentiere unentwegt, und zufällige kleine Abweichungen seien die Ursache für die Beschaffenheit der Dinge. Laut Lukrez gibt es kein Leben nach dem Tod und keine Geister. Religionen sieht er als Aberglaube, und den Sinn des Lebens sieht er in der Steigerung von Genuss und Lust und in der Verringerung von Leid.

Hinweise auf die Atomtheorie, Evolutionstheorie und den Humanismus in einem über 2000 Jahre alten Text! Ohne Poggio wäre dieses Schriftstück vermutlich verloren gegangen und mit ihm die Ansichten und Ideen von Lukrez. Die Renaissance hätte es vielleicht so nie gegeben. Stephen Greenblatt hat ein spannendes und lehrreiches Buch über die Bedeutung antiker Texte für die moderne Welt geschrieben. Im letzten Kapitel beschreibt Greenblatt die Auswirkungen von „De rerum natura“. Anklänge finden sich bei Shakespeare, Montaigne und Galilei. Sowohl Macchiavelli, als auch Giordano Bruno und Thomas Jefferson besaßen eigene Abschriften oder Kopien dieses Textes. Nach dem Lesen dieses Buches weiß man den Wert alter Texte wirklich zu schätzen. Völlig zu Recht wurde das Buch 2012 mit dem Pulitzer Preis für das beste Sachbuch ausgezeichnet.

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